Entwicklung menschlichen Beziehungen
Entwicklung und Wandel in den menschlichen Beziehungen hat es zu allen Zeiten gegeben. Zu keiner Zeit jedoch waren die Veränderungen so schnelllebig, so rasant und vor allem so radikal wie heute. Radikal bedeutet so viel wie an die Wurzel gehend. Und das tun viele Veränderungen in der Tat: Sie gehen an die Substanz, treffen den Lebensnerv, wühlen die Menschen in ihrem Innersten auf. Nicht Wandel und Veränderung an sich sind problematisch, vielmehr machen uns ihr Tempo und ihre Radikalität so sehr zu schaffen. Der beschleunigte Modernisierungsprozess hat längst den Alltag der Menschen erreicht und ihr Leben entscheidend beeinflusst. Bei vielen Menschen und Paaren hat er tief greifende Irritationen ausgelöst.
In früheren Zeiten zogen sich die Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche, in Nachbarschaft und Gemeinde, in Ehe und Familie meist über viele Jahre und Jahrzehnte hin. Die Menschen lebten in begrenzten Lebensräumen, eingebunden und fest verankert in Tradition, Sitte, Brauchtum, Gewohnheit. Das Leben wiederholte sich beständig im Wochenzyklus von Alltag und Sonntag und im Jahreszyklus von Jahreszeiten und Jahresfestkreis. Die menschlichen Beziehungen waren eindeutig geprägt von herkömmlichen Werten und Normen sowie von fest umschriebenen Aufgaben und Rollen. Die Lebenswelt blieb für den Einzelnen überschaubar und zugleich durchschaubar.
Mögliche Entwicklungen und Veränderungen hielten sich im Rahmen, waren in etwa voraussehbar und meist auch steuerbar. Die Rede vom Ehestand, in den man mit der Hochzeit eintrat, oder vom Familienstand verweist auf das damals vorherrschende statische Denken in feststehenden Größenordnungen. Das alles gab den Menschen – auch in ihren Liebes-, Ehe- und Familienangelegenheiten – Halt, Stütze und Sicherheit.
Andererseits unterlag das Leben der Menschen einer starken sozialen Kontrolle mit oft massiven Eingriffen in das persönliche Beziehungsnetz. Es gab vielfältige Abhängigkeiten, Vorschriften, Ge- und Verbote, die das Leben der Liebes- und Eheleute weithin reglementierten und bestimmten Zwängen unterwarfen. Wer die vorherrschenden Anstandsregeln übertrat, sah sich strengen Sanktionen ausgesetzt. In den ehelichen und familialen Beziehungen gab es oft einseitige Abhängigkeiten: Es herrschte der Mann bzw. der Vater. Er hatte unbestritten das Sagen. So war im alten Familienrecht, das bis in die 50er Jahre noch galt, unmissverständlich festgeschrieben, dass eine Frau im Falle einer Berufstätigkeit erst einmal das Einverständnis ihres Mannes einholen musste. Für heutige Generationen eine schlechthin unvorstellbare Maßgabe.
In der Rückschau dürfen frühere Zeiten nicht einseitig idealisiert oder gar glorifiziert werden. Wo Sonne ist, da fällt auch Schatten!
Brief an eine aufgeklärte Oma
Liebe Mutter!
Ich hoffe, dass du dich von der Wallfahrt mit den katholischen Landfrauen gut erholt hast und jetzt gesund das St.-Liborius-Dorffest mitfeiern kannst.
Außerordentlich möchte ich mich für das Büchlein bedanken, das du unserer Melanie zum 16. Geburtstag geschickt hast: Dein Körper erwacht. Leitfaden für heranwachsende Mädchen und junge Frauen zur Vorbereitung auf eine harmonische und glückliche Ehe.
Ich weiß, was dir diesen Hochzeitsratgeber mit der Widmung eures damaligen Pastors bedeutet. Immer wieder hast du uns erzählt, dass du dieses bebilderte Aufklärungs-Heftchen selbst von deiner Mutter geschenkt bekommen hast, nachdem du dich mit Vater verlobt hattest.
Vielleicht fällt es unserer Tochter ja schwer, die Sütterlin- Schrift zu lesen, aber da könnten wir ihr ja behilflich sein. Deine Angst, dich in unsere Erziehung einzumischen, ist aber sicherlich unbegründet. Du weißt, dass ich mich schon immer schwer getan habe, mit meinen Kindern über solche Dinge zu reden. Und du hast sicherlich Recht, wenn du schreibst, dass deine Schwiegertochter – meine Frau – bei der Erziehung doch etwas einseitig neumodische An
sichten hat. Wir haben schon manches Mal darüber gestritten. Sie stammt halt aus der Stadt…
Unsere Melanie wird sich sicherlich noch persönlich bei ihrer Lieblings-Oma bedanken – sobald sie aus den Ferien zurück ist. Sie ist mit ihrem Uwe noch in Holland. Zum Zelten.
Was sich früher an Entwicklungen über mehrere Generationen hinzog und das Leben der Menschen und ihrer Familien kaum merklich berührte, das vollzieht sich heute alles innerhalb eines Menschenalters. Die gesellschaftlichen Umbrüche und Umwälzungen erleben die Menschen sehr persönlich und sehr konkret im Laufe ihres langen Lebens in den verschiedensten Lebensfeldern. Dabei machen ihnen vor allem die grundsätzlichen Veränderungen im Werte- und Normenbereich zu schaffen, weil sie ganz unmittelbare Auswirkungen auf die eigene Lebensführung und Lebensgestaltung haben. Hautnah und unter die Haut gehend erleben sie diese radikalen Verhaltensänderungen in Liebe, Partnerschaft, Sexualität und Ehe. Vor allem in diesen Lebensbereichen sind junge Menschen, aus vorgefertigten Formen und herkömmlichen Normen freigesetzt, auf der Suche nach zeitgemäßen Lebensweisen und Lebensformen.
Was für die Elterngeneration noch selbstverständlich war und meist frag- und widerspruchslos übernommen oder doch zumindest ergeben hingenommen wurde, das hat für die nachfolgende Generation längst an Wert und Bedeutung verloren. Mehr oder weniger alle Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten und Zuständigkeiten, die einst das Leben und die menschlichen Beziehungen regelten, brechen weg. An die Stelle verbindlicher wie verbindender Gewissheiten ist eine Vielfalt ungewisser und oft unverbindlicher Frage- und Problemstellungen getreten. Wessen wir uns nicht mehr gewiss sind, dessen müssen wir uns erst vergewissern. Was nicht mehr selbstverständlich ist, müssen wir einander verständlich machen. Weil vieles nicht mehr eindeutig sozial verankert ist, muss fast alles miteinander ausgehandelt wer-den. Nie zuvor standen so viele Entscheidungen an wie heute. Dabei können wir kaum noch von Grundübereinstimmungen in wichtigen Fragen des Lebens ausgehen. Der Lebenskonsens ist erst noch zu finden – auch und gerade unter Liebesleuten!
Seit ich Amanda kenne, ist etwas so Chaotisches in mein Leben getreten, dass ich nie zur Ruhe komme. Ich meine damit in erster Linie, dass wir keine Gewohnheiten hatten. Das sagt Ihnen jemand, der sich nach nichts so sehnt wie nach Gewohnheiten. Wir haben nie diese zuverlässige Wiederholung kleiner Vorgänge gekannt, die nur nach außen hin ermüdend wirkt, die es einem in Wirklichkeit aber erlaubt, sich zurückzulehnen und Atem zu schöpfen. Gewohnheiten sind wie ein Geländer, an dem man sich in Notlagen festhalten kann, das hat mir immer gefehlt. Es stand nie fest, um wie viel Uhr Frühstück gegessen wird, jedes Mal musste neu ausgehandelt werden, wer ein warmes Abendessen macht. Es gab keine Zuständigkeiten, außer der einen, dass ich morgens in die Redaktion musste und am Nachmittag abgekämpft nach Hause kam. Manchmal haben wir Abend für Abend miteinander geschlafen, dann wieder wochenlang nicht. Wenn Sebastian krank war, war sie die fürsorglichste Mutter, dann plötzlich hat sie von mir verlangt, dass ich Urlaub nehmen und mich an sein Bett setzen soll. Ich hätte mich nie darüber beklagt, aber jetzt, da sie mich als einen hinstellt, mit dem das Leben unerträglich ist, muss ich all das ja nicht auch noch verschweigen.
Jurek Becker, Amanda herzlos
Nichts ist mehr so, wie es war, sagen wir und fühlen uns darin bestätigt zum einen durch unsere persönlichen Erfahrungen, zum anderen durch das moderne Lebensgefühl. Wir brauchen nur einige Jahre zurückschauen, um teils erfreut, teils erschrocken festzustellen, was sich seither in der großen Welt wie auch in unserer kleinen Lebenswelt alles getan hat. Dabei spüren oder ahnen wir, wie sehr wir selbst vom Wandel um uns herum betroffen sind und wie offen-sichtlich die Beziehungen zu den uns nahe stehenden Menschen sich verändert haben. Die gesellschaftlichen Umwälzungen greifen ganz unmittelbar in unser persönliches Leben ein und hinterlassen ihre Spuren.
Veränderung konfrontiert mit Neuem, noch weithin Unbekanntem und Ungesichertem. Veränderung bedeutet Wagnis und Risiko. Veränderung löst Unsicherheit und Ängste aus, führt zu Spannungen und Krisen. Entscheidend ist deshalb, was wir Menschen unter den geänderten Rahmenbedingungen aus unserem Leben, nicht zuletzt aus unseren Partner- und Liebschaften machen. Sie gilt es mit neuen Inhalten und Ideen zu füllen, damit keine innere Leere bei all den radikalen Veränderungen zurückbleibt.
Denn Liebe und Ehe sind in besonderer Weise von dem gesellschaftlichen Umwälzungsprozess betroffen. Innerhalb einer Generation hat sich das Leitbild der Ehe grundlegend verändert. Die heutige Elterngeneration hat in ihrer Kindheit und Jugendzeit die Ehe der Eltern noch weitgehend in ihrer Funktion als Versorgungseinrichtung erlebt. So manche junge Frau hat damals von ihrer Mutter den guten Rat mit auf den Weg bekommen: Heirate, dann bist du versorgt, dann hast du fürs Leben ausgesorgt!
Mit Blick auf die Zukunft der eigenen Kinder hat die gleiche Generation heute völlig andere Sorgen. Für Sohn wie Tochter sorgt sie für eine qualifizierte Ausbildung und einen möglichst zukunftsträchtigen Berufseinstieg. Gegenüber dem Gelingen von Ehen ist selbst die heutige Elterngeneration in hohem Maße unsicher, mitunter sogar misstrauisch geworden. Da ist es gut, frühzeitig für die nachwachsende Generation Vorsorge zu treffen, damit sie auf alles vorbereitet ist und einen möglichst hohen Grad an Unabhängigkeit und Selbstständigkeit erreicht. Aus der stabilen Versorgungseinrichtung Ehe früherer Zeiten ist heute ein labiles Sorgenkind geworden – und das alles in der Lebensspanne einer Generation.
Wer sich und sein bisheriges Leben radikal – bis an die Wurzel gehend – angefragt oder gar bedroht sieht, der wird sich zunächst eben dieser seiner Wurzeln erinnern: seiner Herkunft, seiner Bindungen, seiner Beheimatung, seiner Verwurzelung. Um irgendwo ankommen zu können, muss der Einzelne wissen, woher er kommt. Ohne Herkunft gibt es keine Zukunft! Wer wachsen will, muss verwurzelt sein. Wachsen und Wurzeln sind die Kehrseiten ein und derselben Medaille: Das eine geht nicht ohne das andere. Herkömmliche Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen sowie jetzige und zukünftige Liebesbeziehungen stehen in Wechselwirkung zueinander, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Wie oft beziehen wir uns – bewusst oder unbewusst – auf unsere Herkunftsfamilien, wie oft suchen wir Rückhalt und Unterstützung bei Eltern und Geschwistern. Wie oft gibt es Konflikte und Streitigkeiten zwischen den Generationen, aber sie bleiben ja letztlich in der Familie. So schnell zerreißen alte Familienbande nicht.
Eine Parabel
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bieten dem Menschen ihre Freundschaft an.
Nimm mich zur Freundin, sagt die Vergangenheit, ich biete dir einen riesigen Schatz an Erfahrungen.
Nein, nimm mich, sagt die Gegenwart, heute ist heute, mich brauchst du am meisten. Heute musst du leben! Wie wärs mit mir?, sagt die Zukunft, ohne Zukunft keine Träume, keine Hoffnung, keinen Schwung!
Keine der drei Freundschaften hielt. Dass der Mensch alle drei zusammen als Freundinnen braucht, darauf kam er nicht.
Quelle unbekannt ertewandel –