Leben in die Hand zu nehmen
Die Notwendigkeit, ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen und sich an den verschiedenen Stationen und Kreuzungen ihres Lebensweges selbst entscheiden zu müssen, führt die Menschen aus einst vorgezeichneten und meist eng begrenzten Lebensbahnen heraus. Jeder Mensch hat seinen ganz persönlichen Weg zu gehen. Jedes Paar wird aus den bisherigen individuellen, oft grundverschiedenen Lebensläufen einen gemeinsamen Lebensweg finden müssen. Dabei sind manche Umwege und Seitenwege, mitunter auch Irrwege und Holzwege zurückzulegen, um auf den richtigen Weg zu gelangen.
Folglich sind die Lebens- und Liebesgeschichten der Menschen immer weniger berechenbar und vorhersehbar. Es gibt heute keine normalen Lebensläufe mehr. Auch die Liebesgeschichten der Menschen sprengen jede Normalität und erhalten zusehends eine ganz persönliche Handschrift. Eine bunte, teils verwirrende Vielfalt kennzeichnet die heutige Beziehungslandschaft.
Das Leben der Menschen scheint an Kontinuität und Stabilität zu verlieren. Es gleicht immer weniger einem Entwicklungsroman, eher einer Abfolge von Kurzgeschichten. Ähnlich ergeht es den menschlichen Beziehungen. Sie erweisen sich zunehmend als unbeständig, ja als überaus zerbrechlich. Kaum etwas hat noch unbestritten Bestand. Was einst Ewigkeitswert besaß, scheint heute modischen Trends unterworfen. In Zeiten der Beliebigkeit scheinen auch Liebesbeziehungen jederzeit austauschbar.
Es gibt zahlreiche Bruchstellen in unseren Lebensläufen: Einbrüche, Zusammenbrüche und Abbrüche, aber auch Durchbrüche und Aufbrüche. An diesen Bruchstellen menschlichen Lebens gibt es keine glatten Lösungen, keine vorschnellen Patentrezepte – für viele Menschen eine ganz bittere Erfahrung! Zu tief greifen die Enttäuschungen, zu schmerzvoll werden die persönlichen Kränkungen, Verletzungen und Verwundungen erfahren, als dass mit einen schnellen Brückenschlag die Abgründe ohne weiteres über-wunden werden könnten. Wenn Lebensentwürfe zerbrechen, zerbricht auch etwas in den Menschen selbst: Lebensmut, Lebensfreude, Lebenshoffnung und in extremen Situationen auch der Lebenswille.
Beim Scheitern menschlicher Beziehungen können Welten einstürzen, so überwältigend wird der Abschiedsschmerz erfahren. Aber aus den Trümmern kann neues Leben erwachsen. Absterben und Aufleben – diesen Rhythmus kennt nicht nur die Natur, sondern auch die Lebens- und Beziehungswelt der Menschen. Veränderung und Wandel, Wachsen und Werden haben stets zu tun mit Abstoßen und Zurücklassen, mit Trennen und Verabschieden – zugleich aber auch mit Wiederauf(er-)stehen und Neuanfangen, mit Träumen und Hoffen. Der Schluss einer Beziehung muss nicht heilloses Ende signalisieren. Trennung kann auch heil-sam wirken.
Der abgerissene Strick kann wieder geknotet werden.
Er hält wieder, aber er ist zerrissen.
Vielleicht begegnen wir uns wieder, aber da, wo du mich verlassen hast, triffst du ‘mich nicht wieder.
Bertolt Brecht
Was Liebe und Ehe betrifft: Unter der jungen Generation droht der Verdacht sich auszubreiten, dass menschliche Beziehungen letztendlich zum Scheitern verurteilt sind. Und dieser Verdacht verstärkt sich vor allem mit Blick auf die Ehe, da schon jetzt – zumindest in den städtischen Ballungs-gebieten – die Hälfte aller Ehen irgendwann auf der Strecke zu bleiben droht, der größte Teil davon bereits in den ersten fünf Ehejahren. Persönliche Erfahrungen mit dem Scheitern der elterlichen Ehe und dem Zerbrechen eigener, oft langjähriger Freundschaften und Lebensgemeinschaften verfestigen Vorbehalte und Zweifel gegenüber dem Gelingen ehelicher und familiärer Beziehungen. Trennung und Scheidung – so scheint es – werden heute als normales, unabwendbares Schicksal hingenommen. Für zahlreiche junge Paare sind sie zu einer Art sozialer Erblast geworden – eine wachsende Hypothek auf dem langen Weg zur Ehe.
Statt Ewigkeit nur Dauerstreit
Von der Liebe Unbeständigkeit
Julias Eltern haben sich getrennt. Maximilians Vater ist ausgezogen. Wusstest du, dass Sebastians Eltern schon seit einem halben Jahr nicht mehr Zusammenleben? Brigittes Eltern leben ein Leben nebeneinander, nicht miteinander, des Geldes und der Kinder wegen. Miriams Mutter hat ihre Familie verlassen, als Miriam noch ganz klein war. Und Vronis Eltern lassen sich nun tatsächlich scheiden. Heute überraschen dich solche Verkündungen kaum mehr. Wessen Eltern leben denn schon noch glücklich miteinander? Schau dich mal in deinem Bekanntenkreis um. Früher, ja, früher, da lebten die meisten Eltern zusammen. Dass einmal ein Kind aus dem Kindergarten nur eine Mutter oder einen Vater als allein erziehenden Elternteil hatte, kam ganz selten vor und schockierte dich damals noch unglaublich. Da hast du dir zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht, was du tun würdest, wenn dir selbst … Aber nein! Bei dir zu Hause würde das einfach nie passieren. Da warst du dir sicher. Kein Grund also, derlei Überlegungen anzustellen.
Auch in der Grundschule blieb dir dieser Optimismus weitgehend erhalten. Du glaubtest an die Eltern, an die Familie, die Liebe. Zwar hast du langsam, aber sicher erlebt, wie kompliziert und konfliktgeladen zwischen-menschliche Beziehungen sein können. Aber dein Ziel war es, so schnell wie möglich erwachsen zu werden und selbst eine Familie zu gründen. Und zuvor eine riesige, märchenhafte Hochzeit zu feiern! Davon träumen doch viele Kinder.
Wann genau kam eigentlich dieser Augenblick, in dem dich die Realität einholte und deinen Glauben an das ewige Glück und die ewige Liebe zunichte machte, zumindest aber relativierte? Im Nachhinein kannst du das nicht mehr genau ausmachen. Ob es überhaupt einen einzigen Augenblick gab, ist fraglich. Deine Sicht der Dinge hat sich massiv verändert. Du siehst selbst, wie das mit festen Beziehungen und Freundschaften so ist. Spätestens in der Grundschule stellst du fest, dass da etwas zwischen den Geschlechtern passiert, die sich den ganzen Tag nur ärgern, bei den Müttern über einander lästern und meinen, nie etwas mit dem anderen zu tun haben zu wollen. Von da an nehmen die Gefühle ihren eigenen Weg. Irgendwann kommt der Moment, in dem dein Herz das erste Mal gebrochen wird. Und es kommt der Moment, in dem du selbst einmal ein Herz brichst. Dabei hattest du dir geschworen, das nie zu tun, weißt du doch nur zu gut, wie weh das tun kann. Du erfährst, wie unbeständig die Liebe ist, gibst zunächst aber noch deinem Alter die Schuld daran: Wenn man später erwachsen ist, gibt sich das schon von ganz allein. Und dann wagst du einen Blick rund um dich.
Zwar haben sich Rebeccas Eltern wieder zusammengerauft, aber wie es hinter den Kulissen aussieht, kannst du nicht beurteilen. Christinas Eltern haben sich getrennt. Mikes Vater hat eine Geliebte, was seine Mutter über Jahre hinweg geduldet hat. Jetzt ist sie ausgezogen. Wo Mike bleiben wird, weiß er nicht. Maries Mutter hat im letzten halben Jahr drei Männer angeschleppt. Marie hat den Glauben verloren, dass es je wieder einen Mann geben wird, mit dem es ihre Mutter für immer aushalten wird. Dieses Für immer ist so eine Sache geworden. In den letzten Jahren sind die Scheidungsraten gestiegen. Immer mehr Menschen entscheiden sich für ein Single-Leben, ein Leben ohne Kinder und Trauschein, damit sie im Ernstfall nicht daran gehindert werden, die Verbindung aufzulösen. Traurige Aussichten. Und in all dem Tohuwabohu sollst du dir deinen Optimismus und deinen Glauben an die ewige Liebe bewahren – mit einem Schuss Realitätsbewusstsein versteht sich! Doch, doch, da draußen irgendwo läuft einer/eine herum, der/die genau perfekt für dich ist. Es ist eine Frage der Zeit und des Glücks, beziehungsweise des Zufalls, bis du ihm/ihr begegnest. Aber um Gottes willen, bitte, gib die Hoffnung nicht auf. Egal, wie düster es um dich herum aussieht und die Statistiken sind. Ausnahmen gibt es immer. Warum sollst nicht gerade du zu den Ausnahmen gehören? Außerdem sind da ja noch Tobis Eltern. Sie haben sich kennen gelernt, als sie sechzehn waren, haben mit achtzehn geheiratet und bald darauf eine Familie gegründet. Wenn du sie siehst, spürst du jedesmal, dass du noch nie zwei Menschen gesehen hast, die so miteinander umgehen und deren Liebe zueinander so offensichtlich und sogar nach außen hin erlebbar ist, wie die Liebe dieser beiden Menschen. Denk dran. Sara Roller, Jugend schreibt (FAZ 4.5.98)