Wachsende Perspektivlosigkeit
Es ist schon paradox: Da wollen junge Leute endlich er-wachsen werden, aber sie müssen vorerst noch Heranwachsende bleiben. An der Schwelle zwischen Jugendzeit und Erwachsensein bleibt ihnen der Status des Erwachsenen über einen größeren Zeitraum verwehrt. Länger als jemals zuvor sind sie (Noch-)Jugendliche. Gibt es ein Leben nach Abitur, Studium, Ausbildung? Und was erwartet uns dann? Auf solche oder ähnlich besorgte Fragen fallen die Antworten heute weniger zuversichtlich aus.
Zeiten des Übergangs von einer Lebensphase in die andere sind stets auch Krisenzeiten. Krise bedeutet im ursprünglichen Sinne Wendepunkt oder Scheidepunkt. Im Niemandsland des Nicht-Mehr und des Noch-Nicht stellen sich Gefühle der Unsicherheit, des Unbehagens und der Bedrohtheit ein. Wer Neuland betritt, verlässt den gesicherten Schutzraum seines bisherigen Lebens. An solchen Wendepunkten verändert sich das Leben. Es wird anders als vorher und ist damit zunächst voller Ungewissheit. Das Neue muss sich erst noch als tragfähig und beständig bewähren. Durch die Ausdehnung der Jugendzeit bis weit ins Erwachsenenalter strecken und verschärfen sich die vielfältigen und viel-schichtigen Probleme und Spannungen dieser Lebensphase.
Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist die langfristige und qualifizierte Ausbildung, die heute durch die ständig steigenden Anforderungen einer differenzierten Arbeits und Berufswelt verlangt wird. Wer heute studiert, kommt in der Regel erst mit dem 27./28. Lebensjahr zum Abschluss. Und dann ist völlig ungewiss, ob der Einstieg in den angezielten und gewünschten Beruf überhaupt gelingt. Viele Studentinnen und Studenten haben das Gefühl, für die Halde studiert zu haben. Nach der x-ten vergeblichen Bewerbung fragen sie sich, ob sie trotz ihres hohen Qualifizierungsgrades überhaupt gebraucht werden, ja erwünscht sind. Das hat folgenschwere Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Identitätsbildung der – im wahrsten Sinne des Wortes – betroffenen jungen Frauen und Männer. Eine zusätzliche, oft mehrjährige Umschulung zögert das Erwachsensein noch weiter hinaus.
Ähnliches gilt auch für junge Leute in der Berufsausbildung. Nach der Lehre droht die Leere: Niemand kann heute mit Sicherheit davon ausgehen, dass er oder sie vom Ausbildungsbetrieb übernommen wird oder in einer anderen Firma Unterkommen kann. Zudem müssen sich die (jungen) Erwerbstätigen ständig weiterqualifizieren. Selbst das ist kein Garantieschein für einen sicheren Arbeitsplatz. Das Berufsleben läuft nicht mehr zwangsläufig bis zur Rente. Gerade junge Leute erhalten beim Berufseinstieg oft nur befristete Verträge. All das sorgt für eine wachsende Perspektivlosigkeit.
Die renommierte Shell-Jugendstudie 1997 spiegelt diese Entwicklung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt wider: Die Freizeitbeschäftigung, die bei der jungen Generation in den letzten Jahren die größte Bedeutung gewonnen hat, ist die berufliche Weiterbildung. Über das allgemeine Lebensgefühl der jungen Generation heißt es in dieser Studie weiter: Die größte Angst der Jungen ist heute, ob und wann sie einen Arbeitsplatz finden. 45,3 Prozent aller Befragten zwischen 12 und 24 Jahren behaupten das von sich, bei den 22- bis 24-Jährigen sind es sogar 64 Prozent.
Die heutige Elterngeneration erlebte in den Sechzigern das Wirtschaftswunder, als sie im jugendlichen Alter waren. Sie heirateten jung und bekamen relativ viele Kinder. Die geburtenstarken Jahrgänge erlebten ebenfalls zunächst Wohl-stand und Sicherheit. Aber sie waren es auch, die der anschließende wirtschaftliche Einbruch besonders spürbar traf – genau zum Zeitpunkt ihres Eintritts in das Berufsleben. Seit dieser Zeit werden die Ansprüche und Herausforderungen in der Arbeitswelt immer härter; der Konkurrenzdruck im Beruf verschärft sich zusehends.
Wer für das eigene Leben vorerst keine ausreichende Perspektive entdeckt und voller Sorgen seiner Zukunft entgegensieht, der wird sich vorerst kaum oder höchst zögerlich für ein lebenslanges Miteinander in Ehe und Familie entscheiden. Vorschnell wird der jungen Generation mangelnde Bindungsbereitschaft und fehlendes Verantwortungsbewusstsein unterstellt, ohne dass ihre Kritiker die spürbar werdenden beziehungshinderlichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft zur Kenntnis nehmen wollen. Eine gemeinsame Zukunft als Paar und als Familie können nur solche Menschen erkennen, die bereits einige Zeit vorher für sich eine hinreichende Lebensperspektive entdeckt haben. Das Ja zum Partner bzw. zur Partnerin bedingt zunächst ein Ja zu sich selbst und zum eigenen Leben! Das Ja zum Kind setzt Hoffnungszeichen für die eigene Zukunft voraus! Wo wachsende Perspektivlosigkeit um sich greift, schwinden gleichermaßen das Zutrauen sich selbst gegenüber wie das Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft.