Bewegte Beziehungen
• Er ist unsterblich in sie verliebt.
• Sie ist zu ihm gezogen.
• Die beiden leben schon lange zusammen.
• Sie ist endgültig ausgezogen.
• Er hat sich in eine andere verliebt.
• Nach langer Prüfungszeit heiraten sie.
• Sie genießt ihr Single-Dasein.
• Er sieht sie nur am Wochenende.
• Ihre Ehe ist gescheitert.
• Sie lebt mit einem verheirateten Mann zusammen.
• Er heiratet zum zweiten Mal.
• Sie hat einen neuen Lebensgefährten.
• Die beiden feiern ihre Silberhochzeit.
• Er kommt über die Trennung nicht hinweg.
• Sie lieben sich und versprechen sich Treue.
Menschliche Beziehungen sind von großer Vielfalt und von unterschiedlicher Intensität. Keine Beziehung gleicht der anderen. So vielfältig und vielschichtig die Menschen, so einzig- und andersartig sind auch ihre Beziehungen. Zu Recht sprechen wir heute von der Individualisierung und Pluralisierung menschlicher Beziehungen. Für die einen ein Zugewinn an persönlicher Freiheit, an individueller Wahl- und Entscheidungsmöglichkeit; für die anderen dagegen ein Verlust an Stabilität und Verbindlichkeit mit teilweise chaotischen Verhältnissen.
Menschliche Beziehungen sind in Bewegung geraten, wie die Menschen heute insgesamt viel beweglicher geworden sind. Niemand kann mehr stehen bleiben, unbeirrt und beharrlich auf seinem Standpunkt bestehen. Freundschaft und Partnerschaft, Liebe und Ehe sind alles andere als fest-stehende Größen.
Fürchte dich nicht,
langsam zu gehen,
fürchte dich nur,
stehen zu bleiben.
Aus China
Wir Menschen brauchen Bilder, wenn wir Wichtiges zur Sprache bringen wollen. Wörter allein genügen uns nicht. Sie sind oft nichts sagend und verbraucht, abstrakt und lebensfern. Bilder dagegen sind ausdrucksstark. Sie teilen unsere insgeheimen Empfindungen, Sehnsüchte, Phantasien, Ängste mit. So wird der abstrakte Begriff Leben erst durch entsprechende Bilder lebendig. Menschen begreifen ihr Leben nachhaltig im Bild des Weges, der Wanderung, der Reise. Wir sind unterwegs, gehen vielfältig verschlungene Wege, halten ein und ruhen aus, kommen an und brechen immer wieder auf. Menschen, die sich lieben, erleben die Geschichte ihrer Beziehung in eben diesem Bild des Weges: Liebende machen sich gemeinsam auf den Weg; Eheleute sprechen von ihrem gemeinsamen Lebensweg.
Die Beziehung zweier Menschen ist nie etwas Fertiges, Abgeschlossenes, Abgerundetes. Wie auch kein Mensch mit sich fertig ist, rundum zufrieden mit sich und der Welt. Wer unterwegs ist, bewegt sich, verändert seine Position, gelangt zu neuen Einsichten und Perspektiven. Menschliche Beziehungen im Sinne des Unterwegsseins bedeuten Prozess, Dynamik, Entwicklung. Wie die beiden Partner sich entwickeln, zugleich sich verändern und damit andere werden füreinander, so verändert sich auch ihre Partnerschaft. Diese innere Dynamik ist das Spannende und Faszinierende, zugleich aber auch das Spannungsgeladene und Konfliktträchtige an den heutigen Beziehungen. Menschen sind immer für Überraschungen gut…
Partnerschaften sind heute bewegte Beziehungen: Sie können sich im Laufe der Zeit vertiefen und die Partner einander näher bringen; sie können aber auch in Routine erstarren und zur Entfremdung der Partner führen. Die eine wie die andere Bewegung ist möglich! Beide Entwicklungen werden auch so von jungen Leuten kritisch wahrgenommen an zahlreichen Beispielen aus ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt. Das macht sie mit Blick auf ihre eigene Liebesbeziehung zum einen zuversichtlich, zum anderen aber auch misstrauisch. Wie wird sich unsere Partnerschaft entwickeln? Werden wir uns in fünf, zehn oder gar zwanzig Jahren auch noch lieben und füreinander einstehen? Oder wird es uns so ergehen wie vielen (Ehe-)Paaren um uns herum, wo die Liebe mit der Zeit ausgewandert ist? In Zeiten tief greifender Veränderungen und bewegter Beziehungen leben Menschen zwischen Hoffen und Bangen …
Es gibt keinen Punkt, an dem wir stehen bleiben
könnten und sagen: jetzt haben wirs.
So muss es sein.
So werden wir es immer machen!
Wir sind immer unterwegs.
Ingeborg Bachmann