Heiraten oder nicht
Wie eine Zerreißprobe erfahren junge Frauen und Männer das oft unerträgliche Spannungsverhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Einerseits können sie in den meisten Lebensbereichen – anders als alle Generationen vorher – eine weitreichende Freiheit und Unabhängigkeit ausleben, was u.a. den eigenen Lebensstil, das Freizeit- und Konsumverhalten, den Freundeskreis und die Liebesbeziehungen betrifft; andererseits stehen die meisten von ihnen noch in unmittelbarer finanzieller Abhängigkeit vom Elternhaus. Über zwei Drittel der jungen Erwachsenen sind heute völlig oder teilweise auf materielle Unterstützung angewiesen. Die Aus- und Weiterbildung – ob Lehre, Studium oder Meisterkurs – wird trotz Beihilfen oder Ferienjobs von den Eltern ganz wesentlich mitfinanziert.
Familiäre Unterstützung kennt viele Spielarten: finanzielle Spritzen, Sachleistungen, Versorgung im elterlichen Haushalt, Beistand und Rat in alltäglichen oder außergewöhnlichen Lebenssituationen. Familie wird hier im wahrsten Sinne des Wortes zur Solidargemeinschaft. Das hat es sicherlich zu allen Zeiten gegeben. Was für unsere Zeit völlig neu ist, sind der zeitliche Rahmen, der Umfang und die Intensität der familiären Leistungen. Sie können sich heute über Jahrzehnte erstrecken.
Erstaunlich hoch die Zahl der Rückkehrer: Junge Leute, die bereits aus dem Elternhaus ausgezogen sind, kehren heim. Gradlinige, ungebrochene Entwicklungen in den Lebensläufen junger Menschen sind eine Seltenheit. Da kommen die einen nach beruflichen Rückschlägen und finanziellen Engpässen zurück, andere wiederum suchen familiären Halt und Beistand nach der Auflösung einer Partnerschaft. Junge Frauen sind als Alleinerziehende häufig angewiesen auf die Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie.
Was macht ihr da
Immer musste ich angeben
wohin ich ging
wer da noch sein würde
was wir da tun würden
genau Rechenschaft abgeben
es geschah aus Sorge um mich
und aus Liebe zu mir
wohin gehst du
wer kommt da noch
was macht ihr da
sind die Eltern auch da
du bist pünktlich zu Hause
wer war alles da
waren die Eltern da
was habt ihr gemacht
worüber habt ihr gesprochen
jede Stunde am Tag war beobachtet
jeder Gedanke erfragt
jede Bewegung registriert
und kommentiert
in meinem Zimmer war ich allein
aber die Tür ging unablässig auf
es wurde weitergefragt
und weiterkommentiert
jedes Mal zuckte ich zusammen
es geschah aus Sorge um mich
ich wurde sehr geliebt
ich zucke noch immer zusammen
wenn plötzlich die Tür aufgeht
Anna Jonas
Auf diese Weise verlängert sich das Abhängigkeitsverhältnis. Für die meisten jungen Leute ein ständiger Konflikt: der Widerspruch zwischen formaler Mündigkeit und faktischer Bevormundung. Zum einen wollen und müssen sie sich von ihren Herkunftsfamilien losbinden, zum anderen fühlen sie sich weiterhin finanziell an ihre Eltern gebunden. Obwohl sie sich von so manchen Werten, Überzeugungen, Lebensweisen der Familie längst verabschiedet haben, müssen sie sich immer wieder dem familiären Milieu anpassen.
So lebt eine wachsende Zahl junger Frauen und Männer bewusst oder unbewusst in zwei gegensätzlichen Welten: als Erwachsene in der Welt des Studiums, der Ausbildung, der Arbeit, der Freizeit und des Konsums; als Kinder in der Welt der Familie, der Nachbarschaft, des Heimatortes. Diese Aufspaltung der verschiedenen Lebenswelten droht zu einem gespaltenen Selbstbild zu führen: Hier wird das Ich ganz groß geschrieben, dort wird das Ich weiterhin klein gehalten!
Junge Leute wollen und müssen erwachsen werden – mit und gelegentlich auch gegen ihre Eltern. Ihr Wunsch nach Eigenleben, Freiraum und Selbststand ist berechtigt. Bleibt ihnen diese Entwicklung versperrt- etwa aus falsch verstandener elterlicher Liebe und Fürsorge – kommt es zusätzlich zur materiellen Abhängigkeit auch noch zu einer emotionalen Fixierung. Man kommt von den Eltern einfach nicht los. Die enge Beziehung engt tatsächlich ein. Man ist und bleibt Kind!
Heiraten oder nicht
Zu allen Zeiten haben Erwachsene Macht über die Jungen gehabt; zu allen Zeiten lebten die heranwachsenden Kinder in Abhängigkeit von ihren Eltern. Aber in heutiger Zeit bestimmen immer mehr Eltern – gelegentlich auch Großeltern und sogar Urgroßeltern – über immer weniger Nachwuchs, und das über einen immer längeren Zeitraum. Im Prozess der Verselbstständigung braucht es jedoch die Abgrenzung – zuallererst gegenüber den Eltern. Grenzüberschreitungen greifen in unzulässiger Weise in den Prozess der Selbstfindung ein. Irgendwann haben junge Leute die letzte Entscheidung über ihr Leben, ihre Lebensart und Lebensform selbst zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Durch materielle und vor allem emotionale Abhängigkeit vom Elternhaus verschiebt sich dieser Zeitpunkt immer weiter – bis es mitunter zu spät ist.