Heiraten oder nicht
Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte können wir einen grundlegenden Wertewandel in allen gesellschaftlichen Bereichen bis hin zu den privaten Lebensfeldern ausmachen. Die Eltern, vor allem die älteren Jahrgänge, lebten in ihrer Kindheit noch größtenteils in einheitlich geprägten, oft christentümlichen Verhältnissen mit mehr oder weniger eindeutigen Wertevorgaben durch Familie, Kindergarten, Schule, Kirche, Arbeits- und Freizeitwelt. Die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen hingegen sehen sich einer Vielzahl mehrdeutiger, oft sich widersprechender Lebenseinstellungen und Lebensweisen ausgesetzt.
Im Mittelpunkt der sozialen Veränderungen steht zweifellos die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Individuums. Aus den vielfältigen Möglichkeiten heutiger Lebensgestaltung wählt die einzelne Person aus, entscheidet sich für das eine und zugleich gegen das andere und begründet ihre Option. Jedoch setzt diese Freiheit junge Menschen unter starken Druck. Sie sind mehr denn je herausgefordert, mit den Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten der Wertevielfalt unserer Zeit leben zu lernen, einen Ausgleich zwischen den sich widerstreitenden vor Stellungen und Ansichten herzustellen und zugleich eine eigene Position zu beziehen. Für nicht wenige liegt in dieser Herausforderung eine ständige Überforderung!
In den Dienstanweisungen für einen Unterteufel des Engländers C.S. Lewis findet sich ein aufschlussreicher Hinweis: Die beste Methode, um einen Menschen vom guten Weg abzubringen, besteht darin, ihm überzogene Ideale vorzugaukeln. Er wird sich bis zur Erschöpfung anstrengen – und schließlich aufgeben.
Ob und inwieweit die Menschen den Wertewandel letztlich als Zugewinn oder als Verlust für ihre persönliche Lebensgestaltung einschätzen, hängt ganz wesentlich von ihren subjektiven Erfahrungen ab. So beklagen die einen pauschal einen Werteverfall mit nachteiligen Folgen für das soziale Leben in mehr oder weniger allen Lebensbereichen, während die anderen wiederum von einem Wertezuwachs sprechen, vorrangig in den privaten Lebensfeldern. Die Versuchung der einseitigen Bewertung ist groß, aber wie bei allen Entwicklungen gibt es Vor- und Nachteile, Chancen und Gefährdungen. Den Zuwächsen an Freiheit, Autonomie, Selbstentfaltung und individuellen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten scheinen Verluste an Gemeinschaftsgefühl, Verbindlichkeit, sozialer Stabilität gegen-überzustehen. Mit den neu gewonnenen persönlichen Freiheitsräumen gehen bisherige Sicherheits- und Solidaritätsstrukturen verloren. Wer freigesetzt wird, ist dem Risiko der Freiheit auch ausgeliefert und muss seine Entscheidungen selbst verantworten. Die Moderne bedeutet für das Leben der Menschen einen riesigen Schritt weg vom Schicksal hin zur freien Entscheidung, meint der amerikanische Soziologe Peter L. Berger. Da es immer weniger Selbstverständlichkeiten gibt, kann der Einzelne nicht mehr auf fest etablierte Verhaltens- und Denkmuster zurückgreifen, sondern muss sich wohl oder übel für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden. Fast könnte man von einem neuen Zwang sprechen, dem Diktat der Wahl: Wir können nicht nur zwischen mehreren Möglichkeiten auswählen, wir müssen es auch.
Das aber will gelernt sein. Aber wie und von wem können junge Leute das Abwägen, das Entscheiden, das Verantworten lernen? In einer Gesellschaft, von der Kritiker behaupten, sie befinde sich auf dem Weg zu einer infantilen Gesellschaft, in der Erwachsene in ihren Bedürfnissen und Wünschen, Einstellungen und Verhaltensweisen immer kindlicher, mitunter kindischer werden und selbst verzweifelt nach Zuwendung und Orientierung suchen? Von Eltern, die in die Welt eigener Vergnügungen und Unterhaltungen abtauchen und sich dabei ungeniert auf jugendlich trimmen? Was junge Leute gerade heute brauchten, das wird ihnen weithin vorenthalten: stabile Beziehungen, Präsenz der Eltern, Lob und Anerkennung, wohlmeinende Kritik und Korrektur, Vermittlung von Lebensweisheiten und gelegentliche Ratschläge und Tipps zur konkreten Lebensbewältigung. Erwachsene, die dem Jugendlichkeitskult verfallen und über das Stadium des Heranwachsenden nicht hinauszuwachsen scheinen, stellen kein wünschenswertes Modell des Erwachsenwerdens und des Erwachsenseins dar.
Wenn Erwachsene selbst verzweifelt zur Jugend gehören wollen oder sich zumindest zum Kreis ewig Junggebliebener zählen, welcher Platz bleibt dann noch den Jugendlichen? Die Konfliktlinien zwischen Jung und Alt zeichnen sich ab: Wo sich die Grenzen verwischen, gibt es Probleme mit der Abgrenzung. Die Grenzziehung wiederum ist notwendig, damit beide Generationen sich im Gegenüber definieren (lat. finis = Grenze) können. Andernfalls steht vor allem die junge Generation auf verlorenem Posten – und das ausgerechnet in der wichtigsten Phase der Personwerdung.
Politik, Wirtschaft und Kultur werden heute jedoch weniger von Kindern und ihren Wünschen geprägt als von 30-, 40- und 50-jährigen junggebliebenen. Eine Generation von Ewig-Pubertären ist dabei, die Bundesrepublik in eine infantile Gesellschaft zu verwandeln. Als Spaß-Guerilla oder gut getarnt in Nadelstreifen installiert sie einen alles durchdringenden jugendlichkeitskult und beseitigt die letzten Reste einer Erwachsenenkultur. Weil diese Generation die Erwachsenenrolle für sich selbst verweigert, blockiert sie aber auch das Erwachsenwerden der nachwachsenden Generationen.
Heiko Ernst
Was Liebe und Ehe betrifft: Es geht heute mehr denn je um selbstbewusste, eigenständige, im recht verstandenen Sinne eigen-willige Personen, die einander Partner sein wollen in einer personalpartnerschaftlichen Liebesgemeinschaft. Hier stehen beide Pole – das Personale und das Partnerschaftliche, das Individuelle und das Soziale – in gesundem Spannungsverhältnis zueinander. Ohne ein hohes Maß an Selbstentfaltung und Selbstbehauptung kann niemand zur Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit seiner Person gelangen; ohne einen entsprechenden Grad an Beziehungsfähigkeit und Verbindlichkeit können zwei Menschen einander nicht zu Partnern werden. Wer in einer Partnerschaft leben will, muss selbst-bewusst um die eigenen Stärken und Qualitäten wissen, sich um seiner selbst willen bejahen und annehmen lernen. Dann erst kann er oder sie auch selbst-los sein, das eigene Selbst loslassen im Blick auf den anderen. Selbstbewusstsein und Selbstlosigkeit bedingen einander.
Wir lieben einen Menschen doch nicht,
weil er perfekt,
sondern weil er einzigartig, individuell und eigen ist.
Robert Altman, Filmregisseur, heiraten oder nicht
Ein Mensch wird man durch einen anderen Menschen, diese afrikanische Volksweisheit legt die beide Seiten der Medaille offen. Der bzw. die andere trägt entscheidend zu meiner Identität bei, verhilft mir zum notwendigen Maß an Selbsteinschätzung und Selbstübereinstimmung. Niemand kann sich selbst ins Gesicht sehen. Dafür müssen wir in den Spiegel schauen. Der beste Spiegel ist der Mensch, den wir lieben. Er spiegelt uns. Er sieht uns an und verleiht uns Ansehen.
Jede persönliche Entwicklung findet so ihr Echo in der Beziehung zum anderen. Der jüdische Philosoph Martin Buber sagt deshalb, die Menschen sollten in all ihrem Tun bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden; von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen; sich erfassen, aber sich nicht mit sich befassen. Dadurch wird die notwendige Balance hergestellt zwischen Selbststand und Gemeinsamkeit, Beziehung und Entziehung, Ich und Du.
In diesem Sinne ist die heutige Wertevielfalt kein Werte bedrohendes Schicksal, sondern nachweislich Bereicherung des persönlichen wie des gemeinsamen Lebens. Vielfalt und Reichtum der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie das hohe Maß an Freiheit und Freiwilligkeit in den heutigen Liebes- und Partnerschaftsbeziehungen sind dann – bei allen Gefährdungen und Bedrohungen – als Zugewinn für die persönliche Lebensgestaltung junger Paare zu bewerten.
Werte
Die guten Dinge des Lebens sind alle kostenlos:
Die Luft, das Wasser, die Liebe.
Wie machen wir das bloß,
Das Leben für teuer zu halten,
Wenn die Hauptsachen kostenlos sind?
Das kommt vom zu frühen Erkalten.
Wir genossen nur damals als Kind
Die Luft nach ihrem Werte
Und Wasser als Lebensgewinn,
Und Liebe, die unbegehrte,
Nahmen wir herzleicht hin.
Nur selten noch atmen wir richtig Und atmen Zeit mit ein,
Wir leben eilig und wichtig Und trinken statt Wasser Wein.
Und aus der Liebe machen Wir eine Pflicht und Last.
Und das Leben kommt dem zu teuer,
Der es zu billig auffasst.
Eva Strittmatter